Die Insel Minger liegt im Mittelmeer und wirkt paradiesisch, satte Natur, verspielte Gassen mit bunten Markisen, Kinder spielen auf buckeligen Straßen, Orangen-, Rosen- und Lindenduft liegt in der Luft. Wäre da nicht diese Krankheit.
Der Gestank von Fäulnis und Desinfektionsmittel breitet sich langsam in den Gassen aus: Auf der kleinen Insel ist die Pest ausgebrochen. Das droht nicht nur mit vielen Toten zu enden, sondern stürzt auch die Gesellschaft auf Minger in eine Krise. Die Pest scheint wie eine Zündschnur.
Unter den Menschen herrscht Misstrauen
Es sind ermattende Konflikte, von denen der türkische Autor Orhan Pamuk in seinem Roman «Die Nächte der Pest» schreibt. Unlösbar wie unüberbrückbar wirken die Fehden auf der Insel, die Teil des auseinanderbröckelnden Osmanischen Reiches ist, von dem jeder noch gern eine Schnitte hätte. Das Verhältnis der Menschen zueinander ist von Misstrauen geprägt, auf der eigentlich schnuckeligen Mittelmeer-Insel wird gemordet und geplündert, Gassen, die sonst die Händler mit ihren üppigen Auslagen schmücken, werden still. Kontrolle lässt sich nur noch mit Gewalt und Abschreckung durchsetzen.
All das hat so nie stattgefunden – zumindest nicht auf Minger. Die Insel existiert auf keiner Landkarte und ist der Fantasie des Autors entsprungen. Das Buch ist ein fiktiver historischer Roman, mit teilweise erdachten, teilweise historischen Charakteren und Ereignissen. Aber Pamuk erzählt die Geschichte überzeugend und in einem historischen Rahmen, so dass man als Leser und Leserin denkt, es hätte wohl gut so sein können. Wohl aber auch durch die Erfahrung der Pandemie fühlt man sich dem Ganzen ein bisschen näher und glaubt zu wissen, wie Gesellschaft auf derartige Krisen reagieren kann. Auch auf Minger verbreiten sich Falschnachrichten und Verschwörungstheorien schneller als die Seuche selbst.
Wie funktioniert das Zusammenleben
«Die Nächte der Pest» ist eine Gesellschaftsanalyse, die auf Problematiken verweist, die so alt sind wie Gesellschaft selbst. Der Literaturnobelpreisträger stellt in seinem Buch auch die grundsätzliche Frage, wie Zusammenleben mit Unterschieden in Krisen funktionieren kann – und wozu Krisen Menschen verleiten.
Darum kommen Leserinnen und Leser wohl kaum umhin, in dieser Darstellung Parallelen zu anderen gesellschaftlichen Konflikten zu finden – so auch zu denen im Heimatland des türkischen Autors. An der Spitze des Osmanischen Reiches steht ein schwächelnder Sultan, der immer irgendwo Krieg gegen aufrührerische «Banditen und Anarchisten» führen muss und den «politischen Islam» für sich entdeckt hat, wie Pamuk schreibt.
Major Kamil ähnelt türkischem Staatsgründer
In «Die Nächte der Pest» braucht es schließlich einen, um die Spaltung der Gesellschaft zu überwinden: Major Kamil. Nicht nur dessen Name erinnert an den türkischen Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk (im Arabischen haben beide Namensformen die gleiche Bedeutung). Der Major mit Faible für Napoleon will Christen, Muslimen und Juden mit einer gemeinsamen Sprache und Nationalbewusstsein als Mingerer einen. Ähnlich ging der türkische Staatsgründer vor, dessen Bild heute noch in fast allen offiziellen Gebäuden der Türkei an der Wand hängt und zu dessen Todestag auch mehr als 80 Jahre nach seinem Ableben kleine Kinder in Tränen ausbrechen.
Dem Autor hat das Buch in der Türkei ein Verfahren eingebracht. Gegen ihn wurde Anklage wegen der Beleidigung Atatürks und der türkischen Flagge vorgeworfen. Pamuk hat die Vorwürfe von sich gewiesen, seine Geschichte sei vielmehr ein Ausdruck von Bewunderung gegenüber der historischen Persönlichkeit Atatürks. Ob seine Geschichte nun Hommage an oder kritischer Kommentar zu Atatürk ist, bleibt wohl den politischen Vorlieben der Leser überlassen. Das Buch Pamuks trifft in mehrerlei Hinsicht jedenfalls den Nerv der Zeit – und dürfte das auch in Zukunft noch tun. Mancher mag sich aber wohl wünschen, es würde bessere Antworten liefern.
Orhan Pamuk: Die Nächte der Pest. Übersetzt aus dem Türkischen von Gerhard Meier. 696 Seiten, Hanser Verlag, 30 Euro, ISBN 978-3-446-27084-8.