Geht man nach dem Jubel am Ende des Films, dann steht der Gewinner der Goldenen Palme bereits fest: «Titane», der erst zweite Spielfilm von Julia Ducournau.
Immerhin legt die Französin damit eine wilde Tour de Force vor, fordert ihr Publikum in mehrfacher Hinsicht heraus und erzählt von einer selbstbewussten jungen Killerin – tatsächlich gäbe es gute Gründe, «Titane» am Samstagabend mit dem höchsten Preis der 74. Internationalen Filmfestspiele auszuzeichnen. Außerdem könnte Ducournau dann Geschichte schreiben, ging die Goldene Palme bisher doch nur einmal an das Werk einer Regisseurin.
Im Mittelpunkt von «Titane» steht Alexia. Wenn ihr ein Mann zu aufdringlich wird, sticht sie ihm ihre spitze Haarnadel durchs Ohr in den Schädel. Auch andere, die ihr in die Quere kommen, werden umgebracht. Nach Sex mit (genau: mit!) einem Auto wird sie schwanger, und um der Polizei zu entfliehen, gibt sie sich als vor langer Zeit verschwundener Sohn eines Feuerwehrchefs aus. Der feministische Horrorfilm «Titane» provoziert und schockiert, mit seiner Geschichte und seinen Bildern, und sticht genau deswegen aus dem diesjährigen Wettbewerb hervor.
In der Palmenkonkurrenz mit 24 Beiträgen gibt es allerdings auch noch andere Favoriten für die Hauptpreise. Interessanterweise waren es jedoch nicht die etablierten Filmemacher wie Paul Verhoeven, Nanni Moretti, François Ozon und Leos Carax, die am meisten begeisterten. Stattdessen blieb auch «The Divide» in Erinnerung: ein weiterer Film einer Regisseurin. Die Französin Catherine Corsini thematisiert darin die Proteste der Gelbwesten für mehr soziale Gerechtigkeit und schickt in der Hauptrolle die herausragende Valeria Bruni Tedeschi in das Chaos einer Klinik-Notaufnahme. «The Divide» steckt voller Wut und Energie, voller Empathie und Humor – eine spannende Mischung.
In der Kritikergunst landeten auch einige andere Filme weit oben. So gelingt es dem marokkanischen Beitrag «Casablanca Beats» von Nabil Ayouch anhand eines Musikprojekts zu zeigen, gegen welche Missstände die Jugendlichen ankämpfen müssen. Der US-Amerikaner Wes Anderson hingegen begeistert mit seiner detailverliebten und Star-besetzten Journalismus-Hommage «The French Dispatch», während «A Hero» des Iraners Asghar Farhadi Fragen nach Moral und Schuld stellt. Mit «Petrov’s Flu» wiederum legt Kirill Serebrennikow einen fiebrigen, assoziativ anmutenden Bilderrausch aus dem postsowjetischen Russland vor.
Berührender allerdings sind zwei andere Filme, die in die Welt der jungen Generation eintauchen und ihr Lebensgefühl treffend einfangen. In «Paris 13th District» fokussiert Jacques Audiard, der mit dem Flüchtlingsdrama «Dämonen und Wunder» bereits eine Goldene Palme gewann, in klaren Schwarz-Weiß-Bildern auf junge Menschen mit unterschiedlichsten Hintergründen. In einem Pariser Stadtteil treffen sie aufeinander, verlieben und trennen sich, ordnen sich neu.
Noch konsequenter ließ sich der Norweger Joachim Trier auf seine Protagonistin ein. Mit viel Feingefühl erzählt er in mehreren Kapiteln von der etwa 30-jährigen Julie, die ihren Platz im Leben sucht. Job, Partner, Eltern, all das sind Themen, die sie umtreiben und mit denen sich auch viele Zuschauerinnen und Zuschauer identifizieren können. Ob das die internationale Jury um US-Regisseur Spike Lee ebenfalls anspricht? Ein Novum wird diese Preisverleihung so oder so: Lee ist der erste schwarze Cannes-Jury-Präsident, der eine Goldene Palme übergeben kann.