Streit um die documenta zwischen Stadt und Bund
Nach dem Abhängen des umstrittenen Großbanners „People's Justice“ bleiben auf dem Friedrichsplatz das leere Gerüst sowie die Ständer für die ebenfalls entfernten Pappfiguren zurück. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Uwe Zucchi/dpa)

Nach dem Antisemitismus-Eklat ist ein offener Streit um künftige Verantwortlichkeiten bei der documenta entbrannt.

Der Aufsichtsratsvorsitzende der Kunstausstellung, Kassels Oberbürgermeister Christian Geselle (SPD), geht offen auf Konfrontationskurs mit dem Bund. Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) will als Konsequenz aus den Vorkommnissen mehr Einfluss der Regierung. Sie droht, andernfalls den Geldhahn zuzudrehen.

«Der Stadt Kassel ist es nicht nur durchaus finanziell möglich, sondern insbesondere vor dem Hintergrund der Bedeutung der documenta für unsere Stadt und Stadtgesellschaft auch ideell möglich, die Verantwortung für diese herausragende Veranstaltung auch ohne Beteiligung aus der Bundeshauptstadt zu tragen», entgegnete ihr nun Geselle (SPD) in einem Brief. Das Schreiben liegt der dpa vor.

Roth hatte Änderungen in der Struktur gefordert. Im Kern will Berlin mehr Einfluss. Die Staatsministerin sieht den Rückzug des Bundes aus dem Aufsichtsrat 2018 bei Festhalten an der Bundesförderung als «schweren Fehler». Das soll sich wieder ändern.

Geselle zeigte sich «stark irritiert» vom Verhalten Roths. Weder Stadt noch documenta-Gesellschaft seien kontaktiert worden. Dies stehe «der notwendigen Seriosität und Ernsthaftigkeit» entgegen.

Kassels OB spricht von «staatlicher Zensur»

Er verwies darauf, dass die Bundeskulturstiftung ihr Vorschlagsrecht für zwei Sitze im Aufsichtsrat nicht ausübe. So wäre es möglich gewesen, Kontrollfunktionen wahrzunehmen. «Dies natürlich erst recht, nachdem Sie nach Ihrer Ernennung zur Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien sich bereits Ende Januar 2022 zum Thema mögliche Antisemitismusvorwürfe und documenta fifteen geäußert haben», schrieb Geselle an Roth.

Die documenta benötige «aus ihrer DNA heraus» keine «staatliche Zensur», betonte Geselle. «Dies stünde unserer Verfassung entgegen.» Sollte Roth bei ihrer Haltung bleiben «und nicht Interesse an einer sachlich konstruktiv geführten Debatte haben», würden die städtischen Gremien die Förderung durch die Bundeskulturstiftung diskutieren.

Rückendeckung bekommt Geselle von seinen SPD-Amtsvorgängern Hans Eichel, Wolfram Bremeier und Bertram Hilgen. In einer Erklärung mit Geselle lehnten sie Roths Pläne als «Angriff auf die documenta» ab. Der Wunsch nach mehr Einfluss des Bundes werde damit begründet, die vor allem lokale Verantwortlichkeit stehe im Missverhältnis zur Bedeutung der documenta. «Diese Haltung ist Ausdruck kaum zu überbietender Arroganz und übersieht, dass sich die documenta in ihrer über 60-jährigen Geschichte in „lokaler Verantwortlichkeit“ zu dem entwickelt hat, was sie heute ist – und das ohne oder nur mit sehr bescheidener finanzieller Unterstützung durch den Bund.»

Claudia Roth zeigt sich erstaunt

Roth hält an strukturellen Änderungen fest. Es sollte im Interesse der Stadt sein, gemeinsam mit Land und Bund darüber nachzudenken, wie die documenta so neu aufgestellt werden könne, «dass sich ein solches Desaster nicht wiederholt und die documenta ihrer Bedeutung einer der weltweit wichtigsten Ausstellungen für zeitgenössische Kunst wieder gerecht werden kann».

Zentrales Anliegen des Aufsichtsratsvorsitzenden sollte sein, «aufzuklären, wie es zur Aufstellung eines eindeutig antisemitischen Kunstwerkes bei dieser documenta kommen konnte». Nun müsse sichergestellt werden, dass keine weiteren antisemitischen Kunstwerke vorhanden seien sowie für die nötigen personellen Konsequenzen gesorgt werden.

Den im Geselle-Brief enthaltenen Hinweis auf «staatliche Zensur» wies Roth zurück. «Das hat doch mit Zensur nichts zu tun.» Sie werde das hohe Gut der Kunstfreiheit immer verteidigen. Dieses habe, «wie ich immer gesagt habe, seine Grenzen beim Schutz der Menschenwürde, bei Antisemitismus, Rassismus und Menschenfeindlichkeit».

Roth zeigte sich erstaunt, wenn das Stadtoberhaupt die documenta weitgehend im Alleingang organisieren wolle. Mit Hessen sei sie der Auffassung, dass die documenta eine Strukturreform brauche. «Ich hoffe sehr, dass auch mit der Stadt Kassel jetzt ein konstruktiver Dialog möglich sein wird.»

Träger der Ausstellung ist eine gemeinnützige Gesellschaft, im Aufsichtsrat sitzen Vertreter von Land und Stadt. Dem Aufsichtsrat sitzt Geselle vor, seine Stellvertreterin ist Hessens Kunstministerin Angela Dorn (Grüne). Darunter liegen Geschäftsführung mit Generaldirektorin Sabine Schormann und künstlerische Leitung.

Der Finanzplan der documenta umfasst aktuell 42,2 Millionen Euro. Davon tragen Stadt und Land jeweils 10,75 Millionen Euro. Die Kulturstiftung des Bundes kommt für 3,5 Millionen Euro auf. Die restlichen 17,2 Millionen Euro setzen sich aus Eintrittsgeldern, Drittmitteln und sonstigen Einnahmen zusammen.

Die documenta fifteen dürfte etwa wegen der Corona-Auflagen teurer werden als geplant. Kalkulationen zufolge könnte der Etat um einen siebenstelligen Betrag steigen. Stadt und Land als Gesellschafter sagten zu, dies gegebenenfalls jeweils zur Hälfte zu tragen.

Copyright 2022, dpa (www.dpa.de). Alle Rechte vorbehalten, Von Nicole Schippers, Jan Brinkhus und Gerd Roth, dpa

Von