Seine Wandlung führt ihn immer weiter zum Pop: Steven Wilson. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Lasse Hoile/Caroline International Germany/dpa)

Langgediente Steven-Wilson-Verehrer wollten vor gut drei Jahren ihren Ohren kaum trauen: Was da beim Song «Permanating» aus ihren High-End-Boxen schallte, entpuppte sich als lupenreiner Pop im Stil von Tears For Fears, 10cc, sogar Abba.

Wo war der Großmeister des Neo-Progressive-Rock geblieben, der Klangzauberer, der Macher von Genre-Referenzalben mit seiner Erfolgsband Porcupine Tree und ultrakomplexen Solowerken wie «The Raven That Refused to Sing»? Diese Skeptiker müssen jetzt bei «The Future Bites» ganz stark sein.

Zwar hielt die Vorgängerplatte «To The Bone» mit «Refuge» oder «Detonation» noch einige typische Prog-Kracher bereit, doch hatte der Brite den Weg in eine poppigere Richtung bereits vorgezeichnet. Das Album von 2017 war zudem sein erfolgreichstes in den Charts – Platz 2 in Deutschland, Rang 3 im UK. Das «Quo vadis, Steven?» einer weltweiten Fan-Gemeinde beantwortet Wilson mit «The Future Bites» nun recht eindeutig.

Wohl nicht zufällig hat der 53-Jährige seiner im Vorjahr wegen Corona verschobenen Albumveröffentlichung eine überraschende Coverversion vorausgeschickt: «The Last Great American Dynasty» von US-Superstar Taylor Swift aus ihrem 2020er Folkpop-Album «Folklore». So viele Worte habe er noch nie in dreieinhalb Minuten gesungen, schrieb Wilson dazu Ende Dezember auf seiner Webseite. Und schob – für manche vermutlich provozierend – nach: Diese Fassung des Swift-Liedes sei bewusst nah am Original, weil es bei ihr doch so toll geklungen habe.

Mehr Pop-Wertschätzung geht kaum. Wer nun etwa «Self» oder «12 Things I Forgot» vom aktuellen Wilson-Album hört, kann erneut geschockt sein oder sich zumindest bestätigt fühlen. Denn der seit über 30 Jahren aktive Musiker aus der Nähe von London bekennt sich in diesen beiden Songs – und noch manchen anderen auf «The Future Bites» – klar zur neuen Ausrichtung. Die Lieder sind meist kurz bis mittellang, mit übersichtlichen Strukturen und schönen Chorgesängen zur Unterstützung von Wilsons sympathisch fragiler Lead-Stimme.

Selbst wenn ein Stück mal ausufert wie das zehnminütige «Personal Shopper», hat es wenig Ähnlichkeit mit einstigen Progressive- oder Artrock-Brocken seiner Bands Porcupine Tree, Blackfield und No-Man. Stattdessen ist hier viel Elektropop zu hören, wie er in Wilsons Lieblingsjahrzehnt, den 80ern, aktuell war. Inklusive Soul- und Gospel-Einschlag, in «Eminent Sleaze» sogar mit Seventies-Anklängen an The Temptations oder Isaac Hayes.

Schwermütige Balladen wie «Man Of The People» oder «Count Of Unease» kann Steven Wilson natürlich immer noch. Auch die textliche Ebene bleibt gewohnt ambitioniert: «The Future Bites» ist laut Label Caroline «eine Erkundungsreise in den menschlichen Verstand in Zeiten des Internets» und in «eine Welt der Süchte des 21. Jahrhunderts».

Für die Abkehr vom bewährten, an frühe Genesis, Pink Floyd oder King Crimson anknüpfenden Bombast-Rocksound sei er «von vielen Leuten für dumm erklärt worden», auch von Managern und Plattenfirmen. Das sagte Wilson kürzlich im Interview von «Loudersound» über seine Solo-Jahre seit 2010. «Aber insgesamt fühlte ich mich damit glücklicher, als ich es lange Zeit war. Ich bin von Natur aus ein bisschen der Kontrollfreak, daher wollte ich die Kontrolle zurückhaben.»

Auch auf das eingangs erwähnte, bei puristischeren Fans so umstrittene Stück «Permanating» ist der Sänger, Multiinstrumentalist und Produzent stolz, wie er dem Fachblatt «Gitarre & Bass» schon 2017 sagte. «Es ist nicht so, als würde ich da etwas vortäuschen, das ich nicht bin.»

Denn zugänglichere Musik sei für ihn nichts Anrüchiges. «Es ist mein Kindheitstraum, eine ähnliche Pop-Ikone zu werden wie Prince oder David Bowie, mit deren Musik ich aufgewachsen bin», gab Wilson in dem Interview zu. «Und ein Teil von mir arbeitet immer noch daran, den Mainstream-Pop zu erreichen. Allerdings ohne blöde Songs zu schreiben oder faule Kompromisse einzugehen (…).»

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