Stephen King geht der Gruselstoff nicht aus. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Evan Agostini/Invision/AP/dpa)

Jamie Conklin ist ein ganz normaler Junge. Er ist neun Jahre alt und lebt mit seiner Mutter in New York. Seinen Vater hat Jamie nie kennengelernt, aber seine Mutter Tia hält die beiden als Literaturagentin über Wasser.

Die beiden haben ein Geheimnis, auch wenn sie nicht groß darüber reden: Irgendwas stimmt nicht mit Jamie. Der Junge sieht tote Menschen.

Beim neuen Buch «Später» von Stephen King muss man unweigerlich an den preisgekrönten Film «The Sixth Sense» aus dem Jahr 1999 denken, an den kleinen Jungen Cole, der mit Verstorbenen reden kann, und Bruce Willis in der Rolle des Psychiaters, der der Sache auf den Grund geht.

Auch Jamie Conklin hat den sechsten Sinn. In «Später» muss der Junge aber ohne Seelenklempner mit den Seelen fertig werden. Aber das ist für ihn alles erstmal gar nicht so schlimm wie es sich anhört. Jamie sieht die Geister kürzlich verstorbener Menschen. Auch wenn sie nicht immer einen appetitlichen Anblick bieten, etwa nach einem blutigen Verkehrsunfall, stehen die Toten in erster Linie nur in der Gegend rum – meist dort, wo sie aus dem Leben geschieden sind. Sie machen nicht viel.

Wenn sie Jamie erkennen, dann winken sie höchstens mal. Sie flanieren auch nicht sehr lange als Geister durch die Stadt, werden immer blasser, ihre Stimmen immer schwächer, und nach wenigen Tagen sind sie komplett verschwunden.

Während Normalsterbliche nur einen Hauch von Kälte in der Umgebung der Toten wahrnehmen, kann Jamie sie sehen und mit ihnen sprechen. Wobei von angeregten Unterhaltungen nicht die Rede sein kann, die Toten reagieren eher einsilbig und emotionslos. Was aber entscheidend ist: Tote sagen immer die Wahrheit, sie müssen das tun.

Das kann hilfreich sein, wenn etwa der alte Nachbar den Schmuck seiner kürzlich verstorbenen Frau sucht. Jamie fragt sie einfach, denn sie steht da ja gerade noch auf dem Flur neben ihm, aber das sieht nur der Junge. Oder wenn der Lieblingsautor seiner Mutter plötzlich stirbt, ohne das letzte Buch seiner Bestseller-Saga zu vollenden, von dem sich die Agentin viel Geld erhofft hatte. Man fragt den toten Schriftsteller einfach selbst, wie die Geschichte endet, und schreibt das Buch fertig.

Die Gabe kann also von Vorteil sein, und das nutzen auch die Erwachsenen in Jamies Umgebung aus. Aber man sollte nicht zu viel Kontakt zu den Toten suchen. «Tote zu sehen bedeutet noch lange nicht, Tote zu kennen», das weiß Jamie selbst. Auch böse Menschen sterben, etwa Terroristen oder Drogendealer. Und die sollte man nach ihrem Ableben nicht zu sehr ärgern. Denn dann legt man sich mit einem Gegner an, der nicht von dieser Welt ist und einen bis zum Ende seiner Tage heimsucht. Jamies Gabe wird ihm zum Verhängnis.

Stephen King, mittlerweile 73 Jahre alt, schreibt und schreibt und schreibt. Der König des Horrors produziert die Gruselgeschichten am Fließband, man könnte meinen, er sei selbst von Schreibdämonen besessen. Dabei überrascht King immer wieder mit spannenden Geschichten, wenn auch die Idee vom Jungen, der tote Menschen sieht, nicht ganz so neu ist.

«Später» ist ein Buch irgendwo zwischen Kriminalroman, Spukgeschichte und Biografie über die Kindheit eines Jungen, der mehr sieht als die anderen. Man fiebert mit Jamie Conklin mit, Seite für Seite. Wer den Stil des US-Schriftstellers mag, wird es, einmal angefangen, kaum noch zur Seite legen können.

Stephen King: Später, Heyne, München, 304 Seiten, 22,00 Euro, ISBN 978-3-453-27335-1

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