Cover des Romans «Silverview» von John le Carré. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Ullstein/dpa)

Wenn das letzte Buch eines Autors nach seinem Tod erscheint, wird daraus oft mehr als ein Buch. Man kann es als letzte Botschaft sehen, oder eine Bilanz, eine Abrechnung.

Ist «Silverview», der Roman von John le Carré, der nun bei Ullstein erschienen ist, all das? Vielleicht nicht. Vielleicht aber auch sehr wohl.

Denn es ist ein Buch, das le Carré – der am Dienstag 90 Jahre alt geworden wäre – schon vor Jahren angefangen hatte, irgendwann kurz nach dem 2013 erschienenen Roman «Empfindliche Wahrheit». Er schrieb und überarbeitete, und überarbeitete wieder. Doch in den Buchregalen wurde «Silverview» von autobiografischen Notizen und zwei Romanen überholt – und war bei le Carrés Tod an den Folgen einer Lungenentzündung im Alter von 89 Jahren immer noch ein Manuskript in der Schublade.

Sein Soh hat nur wenig zugefügt

Sein Vater habe ihm irgendwann das Versprechen abgenommen, ein unvollendetes Buch, so eins übrig bleiben sollte, fertigzuschreiben, sagt le Carrés Sohn Nicholas Cornwell, selbst ein Schriftsteller unter dem Namen Nick Harkaway. Also habe er sich nach dessen Tod noch trauernd mit Bleistift und dem abgetippten «Silverview»-Manuskript in einen Sessel gesetzt und gelesen. Er habe nicht viel Arbeit gehabt: «Nichts Tiefgehendes.» Nur einige Stellen, an denen Redigierarbeit nötig gewesen sei. «Ich glaube, im ganzen Buch gibt es vielleicht zwei Absätze, die ich als Übergang geschrieben habe», sagt Harkaway. «Niemand wird meine Spuren finden – und ich kann mich selber nicht einmal mehr erinnern, wo sie sind.»

«Silverview» ist ein eher kurzes Buch, gut 250 Seiten in der deutschen Übersetzung von Peter Torberg. Knapp dünner als einst «Der Spion, der aus der Kälte kam», eine fieberhaft aufgeschriebene Geschichte, mit der le Carré, der eigentlich David Cornwell hieß, vor einem halben Jahrhundert den Spionageroman neu erfand und Schriftsteller von Beruf werden konnte.

Liebe und Verrat

«Silverview» ist ein sich langsam zuziehender Knoten von einem Buch. Es beginnt mit zwei auf den ersten Blick voneinander losgelösten Episoden. Eine junge Frau schiebt einen Kinderwagen durch den Regen, um jemandem einen Brief von ihrer an Krebs sterbenden Mutter zu übergeben. Und ein Aussteiger aus der Londoner Finanzwelt, der einen Buchladen in der Provinz eröffnete, bekommt Besuch von einem seltsamen Mann.

Die Geschichte dahinter tritt nach und nach zu Tage, wie ein Polaroid-Foto. Und weil es le Carré ist, werden diese beiden Ereignisse bald nicht nur miteinander verbunden sein, sondern auch Teil einer Story um Spione und Agentenführer, um Geheimnisse und Lügen, um Liebe und Verrat – und auch um die Verantwortung und Ohnmacht des Westens und seiner Geheimdienste, ob einst beim Krieg im ehemaligen Jugoslawien oder im Nahen Osten. «Wir haben nicht viel erreicht, um den Lauf der Geschichte zu verändern, oder?», sagt ein desillusionierter alter Spion zu einem anderen.

Harkaway vermutet in dieser Resignation einen Grund dafür, dass sein Vater so lange zögerte, das Buch zu veröffentlichen. Denn le Carré, bis zu seiner Schriftsteller-Karriere selbst ein britischer Geheimdienstler, sei stets loyal zum «Service» geblieben. Er habe bei aller Kritik und Enttäuschungen geglaubt, dass es dort genug im Kern gute Leute gebe, die im entscheidenden Augenblick das Richtige tun würden. «Doch im Kontext dieser Geschichte hat man nicht das Gefühl, dass der Geheimdienst für irgendjemanden etwas Gutes tut.»

Das sei eine Erkenntnis gewesen, die es le Carré schwer gefallen sei, laut auszusprechen, glaubt sein Sohn. Je länger sein Vater an dem Buch gearbeitet habe, desto klarer seien für ihn die Konturen der Botschaft geworden, die ihm nicht gefiel. «Eine Art emotionale Blockade» könne der einzige Grund gewesen sein, der ihn gehindert habe, «Silverview» fertigzuschreiben und zu veröffentlichen. Mit Echos der Motive, Geschichten und Schauplätze von le Carrés früheren Büchern fühlt sich der Roman zugleich oft als Bestandsaufnahme seines eigenen Lebenswerks an.

Die Blockade könnte aber auch zutiefst persönliche Gründe gehabt haben. Auch le Carrés Frau Jane kämpfte gegen eine Krebserkrankung – genauso wie er selbst. «Er hatte eine Krebsart, mit der man stirbt, sie eine, an der man stirbt», wie es Harkaway formuliert. «Und ich denke, die Beschreibung der alten Lady mit Krebs in dem Buch wurde zu schmerzhaft für ihn. Geschrieben als Betrachtung von Alter und Tod, wurde sie zu einer Beschreibung ihres möglichen Todes.» Jane Cornwell überlebte ihren Mann um wenige Monate und starb im März. «Wenn ich sie ohne ihn sah, suchte sie stets nach dem Teil ihres Verstands, der in seinem Gehirn lebte. Und ihm wäre es ohne sie genauso ergangen», sagt Harkaway.

John le Carré: Silverview, übersetzt von Peter Torberg, Ullstein, 256 Seiten, ISBN 978-3-550-20206-3

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