In der Alpinistenwelt herrscht große Aufregung. Denn eine seit Jahrzehnten bestehende Gewissheit soll plötzlich falsch sein: Bislang galt der Südtiroler Extrembergsteiger Reinhold Messner dort als der erste Mensch, der alle 14 Achttausender der Welt bestiegen hat – und außerdem als erste Person, die dies ohne Hilfe von Sauerstoff aus der Flasche geschafft hat. Inzwischen ist er auf der Internetseite des Guinness-Buches lediglich als «Vermächtnis»-Rekord gelistet – heißt: Der Rekord wurde zu einer Zeit anerkannt, als die Berechnungen nicht dem heutigen Stand entsprachen.
Grundlage sind neue, umstrittene Berechnungen – unter anderem mit Geodaten, wonach etliche Bergsteiger vor Erreichen des «wahren Gipfels» wieder umgekehrt seien. Insbesondere der deutsche Himalaya-Chronist Eberhard Jurgalski sagt schon länger, dass Messner nie ganz oben auf dem Gipfel des 8091 Meter hohen Annapurna gestanden habe.
Messner: Rekord nie in Anspruch genommen
Seit der Aberkennung ist die Bergsteigerwelt in heller Aufruhr. Jurgalskis Veröffentlichungen und die darauf folgende Guinness-Entscheidung haben einen Gipfelstreit in Gang gesetzt. Messner reagierte irritiert. «Einen Rekord, den ich nie in Anspruch genommen habe, kann man mir auch nicht nehmen,» sagte er der dpa. Auf Jurgalskis Berechnungen angesprochen sagte Messner: «Der hat keine Ahnung. Der ist kein Experte. Der hat einfach den Berg verwechselt. Natürlich sind wir auf dem Gipfel angekommen.»
Der Streit hat sich seitdem verselbstständigt. Er werde mittlerweile von Messners Anhängern beschimpft, sagte Jurgalski im Gespräch mit der dpa. «Ich habe Messner keinen Rekord aberkannt, sondern seine Leistung lediglich einordnen wollen.» Der Bergsteiger habe nur einen Fehler gemacht. «Messner hat viel geleistet, aber einen kleinen menschlichen Fehler gemacht – so wie andere auch», so Jurgalski.
Der Lörracher betont zudem, seine Veröffentlichungen zu den neuen Berechnungen seien nicht persönlich gegen Messner gerichtet gewesen. Schließlich habe er herausgefunden, dass auch andere nicht die Gipfel der Achttausender Annapurna, Dhaulagiri und Manaslu erreicht hätten. Jurgalski rief Messner auf, damit aufzuhören, ihn zu beleidigen.
Geodaten als Beleg
Gemäß den neuen, von Jurgalski angestoßenen Daten, auf die die Organisatoren des Guinness-Buches zurückgreifen, wird nun dem US-Amerikaner Ed Viesturs der Titel zugesprochen. Dieser springt seinem weltweit bekannten Bergsteiger-Kollegen nun zur Seite. «Ich bin der festen Überzeugung, dass Reinhold Messner der erste Mensch war, der alle 14 Achttausender bestiegen hat, und dass dies auch heute noch anerkannt werden sollte», sagte Viesturs auf dpa-Anfrage.
Doch nach Berechnungen von Jurgalskis Team hat Messner niemals die Spitze des Annapurna erreicht. Grundlage seiner These sind Geodaten, wonach er und etliche andere Bergsteiger vor Erreichen des «wahren Gipfels» wieder umgekehrt seien. «Messner war an einem Punkt 65 Meter vor und fünf Meter unter dem Gipfel», so Jurgalski.
Bergsteiger-Experten zufolge war es in der Vergangenheit bei vielen Gipfeln nicht immer eindeutig klar, wo genau der höchste Punkt war und ob man ihn erreicht hatte. Dabei spielte vor allem die Unübersichtlichkeit eine Rolle. Sturm, Schnee und vor allem fehlendes GPS beeinträchtigten damals den Orientierungssinn. «Ob wir nun fünf Meter höher standen oder nicht – das kann niemand wissen auf der Welt. Weil der Sturm zu stark war und ein White Out herrschte: dichter Nebel, alles weiß um uns herum, Schnee, Eis», sagte Messner der FAZ. Nicht nur der Gipfel sei damals sein Ziel gewesen, sondern auch der Weg dorthin.
Als Messner 1985 den Annapurna erklomm, gab es keine Geodaten und GPS. «Ich glaube, dass Messner und die anderen ihr Möglichstes getan haben, um auf diesen Bergen die wahren Gipfel zu besteigen, und zwar nach bestem Wissen und unter den Bedingungen, die sie vor Ort vorfanden,» sagt auch der neue Rekordmann Viesturs.
Messner will sich in dem Gipfelstreit nun zurückhalten. Auf seinem Instagram-Profil Messner setzte er am Montag nach eigenen Worten einen letzten Post zu dem Thema ab. Ihm gehe nicht in erster Linie um das Erklimmen des Gipfels für einen Rekord. Im Alpinismus gebe es keine Rekorde – so etwas werde es im traditionellen Alpinismus nie geben. «Ich habe in meinem Leben so viel gewonnen, dass ich heute voller Stolz sagen kann, dass ich ein glücklicher Mann bin!»