Ausgerechnet der «We love to entertain you»-Privatsender ist dank der Entertainer Joko Winterscheidt (42) und Klaas Heufer-Umlauf (37) immer öfter der Ort für experimentelles Fernsehen.
ProSieben hat am Mittwochabend sieben Stunden Sendezeit ohne Werbung freigeräumt, um mit einer Doku auf Deutschlands Pflegenotstand aufmerksam zu machen. Unter dem Motto #Nichtselbstverständlich wurde in Echtzeit mit Hilfe einer Bodycam eine Schicht der Krankenpflegerin Meike Ista im Knochenmark- und Transplantationszentrum der Uniklinik Münster gezeigt.
Die Visite bei den Patientinnen und Patienten war mit jedem einzelnen Arbeitsschritt zu sehen. Der Zuschauer konnte unmittelbar miterleben, was es wirklich heißt, in der Pflege zu arbeiten. Die Sendung begann morgens um 6.00 Uhr (dokumentiert am 18. März) – bei ProSieben kurz nach 20.15 Uhr – und war vorbei, als Ista Feierabend hatte. Das war im TV um 3.00 Uhr am Donnerstagmorgen.
Auf dem Twitter-Account des öffentlich-rechtlichen Kulturkanals Arte hieß es: «Was da gerade bei ProSieben passiert, dürfte ein Stück deutsche TV-Geschichte sein.» Der Konkurrenzsender RTL lobte: «Starke Aktion, ProSieben!» RTLzwei twitterte: «Heute seid Ihr definitiv der Reality Sender Nr. 1. Ganz große Klasse und ganz großen Dank!»
Im Schnitt verfolgten 730.000 Menschen die Sendung «Joko & Klaas Live». Das entsprach über die gesamte Zeit einem Marktanteil von 4,4 Prozent. In der Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen betrug der Marktanteil 12,2 Prozent (530.000 Zuschauer). ProSieben sprach am Donnerstag von einer «Nettoreichweite» von 5,84 Millionen Menschen. Damit ist die Zahl der Leute gemeint, die mindestens einmal kurz erreicht worden sind.
Der in Unterföhring bei München sitzende Sender ProSieben twitterte: «Bitte helft, dass aus diesem Abend eine große Respektkundgebung wird, die etwas ändert.» Und der Senderchef Daniel Rosemann schrieb: «Wir sind heute Ort für eine Demo. Für eine Demo, für die die Teilnehmer vor lauter Überstunden keine Zeit haben.»
In der Doku kamen eingeblendet auch andere Pflegekräfte zu Wort, etwa Alexander: «Wir können nicht sagen: Morgen machen wir mal die Klinik zu oder morgen ist die Intensivstation mal zu und wir gehen auf die Straße. Dann sterben Menschen! Das zeigt ja wieder, wie hoch unsere Verantwortung ist. Aber es begrenzt uns eben auch in unseren Möglichkeiten, unsere Interessen durchzusetzen.»
Tausende twitterten am Abend und nachts zum Thema Pflege. Viele forderten mehr Engagement von der Politik, etwa von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn. SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz twitterte: «Danke Joko und Klaas für diese Sendung! Und – man kann es nicht oft genug sagen – Danke an alle Pflegerinnen und Pfleger!» Und weiter: «Ohne sie geht nichts. Antwort auf diese Erkenntnis ist nicht, Beifall zu klatschen. Respekt heißt: gute Löhne und Arbeitsbedingungen.»
Unter dem Tweet von Scholz sammelte sich jedoch Kritik. Der in der Sendung vorkommende Krankenpfleger Alexander Jorde twitterte: «Ich will keine Worte mehr, ich will Taten. Die SPD ist Teil der Bundesregierung. Du bist Vizekanzler, Olaf Scholz. Worauf warten wir? Wann, wenn nicht jetzt? Hört auf zu reden. Handelt! Wir haben keine Zeit mehr.»
Tenor der Sendung war: Seit Jahrzehnten versäumten es Politik und Gesellschaft, faire Bezahlung und gut machbare Arbeitsmengen für Pflegekräfte zu organisieren. Es werde immer schlimmer.
Der Bielefelder Intensivpfleger Ralf Berning wies auf die andauernde Überbelastung hin. Er kenne Leute, die 23 Tage am Stück arbeiteten, das sei «völlig unmenschlich». Er sei lange Soldat gewesen und ginge lieber wieder nach Afghanistan, als noch einmal so etwas Schlimmes zu erleben wie etwa während der zweiten Corona-Welle im Herbst.
Winterscheidt und Heufer-Umlauf behandeln in ihrer Sendung «Joko & Klaas Live» immer wieder gesellschaftlich relevante Themen. Die Sendezeit hatten sich die Moderatoren in der am Dienstag ausgestrahlten Show «Joko & Klaas gegen ProSieben» erspielt, in der sie in mehreren Wettkämpfen gegen ihren Arbeitgeber antreten.
Erstmals in der Geschichte der Show hatten die Entertainer diesmal ProSieben gebeten, nach ihrem Sieg mehr Sendezeit als die sonst übliche Viertelstunde zugestanden zu bekommen. «Sowas stellt nämlich in so’nem Sender ein bisschen was auf den Kopf und widerspricht genau genommen jeder Regel des Fernsehens», leitete Klaas die Sondersendung ein.