Ein greiser Mann mit Hut nimmt an Krücken langsam Platz an einem Holztisch und schaut im Halbschatten in die Kamera. «Schaut mich an, den alten Mann, voller Glück war mein Leben», singt Schlagerstar Tony Marshall zu dem Schwarz-weiß-Video vom April vergangenen Jahres, seine Söhne Marc und Pascal gesellen sich später hinzu. Sein Gesicht ist schmal geworden, die Augen groß und wach, die Stimme noch kraftvoll. Marshall nimmt Abschied, so scheint es.
Nach diversen gesundheitlichen Turbulenzen und schließlich einer Notoperation im Mai vergangenen Jahres ist es nun ganz still um ihn geworden. Am 3. Februar wird Marshall 85 Jahre alt und feiert im engsten Familienkreis. «Hurra, die 85 ist da!», sagt er. «Und dann habe ich auch noch das große Glück, meinen Geburtstag genau mit den Menschen zu feiern, die mich immer so genommen haben, wie ich bin.»
Sein Leben lang hat er gesungen. Schon als Baby soll er so laut geschrien haben, dass seine Karriere als Sänger quasi vorprogrammiert war. So erzählt es Tony Marshall vor einiger Zeit, lachend, freundlich und wie immer voller Lebensfreude. Eine einzigartige Karriere hat er hingelegt – und über sechs Jahrzehnte hinweg durchgezogen. Eigentlich als Opernsänger ausgebildet, heftet er sich schon mit dem Hit «Schöne Maid» unauslöschlich in die Annalen des deutschen Schlagers: 1971 hat er mit dem Song seinen musikalischen Durchbruch als Schlagersänger.
120 Singles veröffentlicht
Zahllose Hits folgen. Neben «Schöne Maid» sind es beispielsweise «Heute hau’n wir auf die Pauke», «Junge, die Welt ist schön», «Bora Bora» oder «Auf der Straße nach Süden». Rund 120 Singles veröffentlicht er, er moderiert rund 40 TV-Shows und absolviert Tausende Auftritte. Seine Tonträger werden millionenfach verkauft.
Geboren wird er als Herbert Anton Bloeth – später ändert er den Familiennamen in Hilger, den Geburtsnamen seiner Mutter – in Baden-Baden, wo er heute noch lebt. Nach seiner klassischen Ausbildung unter anderem an der Musikhochschule Karlsruhe eröffnet er erstmal eine Kneipe. Bis die «Schöne Maid» kommt und ihn unversehens zum Kultstar macht.
Als Gute-Laune-Sänger der Nation prägt Marshall künftig die Schlagerwelt, füllt Hallen oder singt auch mal auf kleineren Bühnen. Er tourt mit «Stars der Volksmusik», singt im Musical «Anatevka», bringt den Superhit «Schöne Maid» zusammen mit Rocksängerin Anastacia auf Englisch raus und eröffnet 2021 sogar eine kleine Galerie in Gaggenau bei Rastatt. Bis obenhin gefüllt mit Erinnerungen ist sie: Fotos mit seinen Schlagerkumpels Karel Gott oder Roberto Blanco, Pokale, Goldene Schallplatten. «In der Summe ist alles dufte gelaufen», sagt er kurze Zeit später.
Immer wieder von Tiefschlägen eingeholt
Doch trotz aller Fröhlichkeit und Zuversicht: Das Leben des früher ewig dauergewellten und braungelockten, später Toupet und inzwischen längst Hut tragenden Sängers ist die letzten zehn Jahre immer wieder von gesundheitlichen Tiefschlägen begleitet. Er leidet an der Nervenkrankheit Polyneuropathie, die zeitweise von Lähmungserscheinungen begleitet ist. Er trägt einen Herzschrittmacher, er liegt wegen eines Schlaganfalls Anfang 2019 tagelang im Koma. 2021 übersteht er eine Corona-Infektion. Zuletzt muss er mehrfach pro Woche zur Dialyse.
Stets bricht Tony Marshall eine Lanze für den Schlager, mit den Jahren sogar immer ausdrücklicher. Obwohl er am Anfang seiner Karriere ja mehr oder weniger zufällig in das Genre hineinrutscht, verteidigt er es vehement gegen abschätzige Kommentare und Vorurteile. Er findet, dass der Schlager eine größere Bühne braucht und zu stiefmütterlich behandelt wird. Durch die Lande zu touren und den Menschen Freude zu bringen, ist sein Motto – bis ihn nun der Körper zum Innehalten zwingt.
Halt und Geborgenheit gibt ihm schon immer seine Familie. Seit Ewigkeiten ist er mit seiner Jugendliebe Gaby verheiratet, mit der er eine Tochter und zwei Söhne hat. Marc und Pascal treten längst in seine Fußstapfen als Sänger. Auch jetzt sei seine ganze Familie um ihn herum, von seiner Frau bis zu seinen Urenkeln. «Ich war erfolgreich in meinem Beruf als Sänger und ich bin glücklich», sagt er. «Für mich ist jeden Tag Jetzt-Zeit! Und das feiere ich!»