Thomas Mann liebte das Meer. Diese Leidenschaft zieht sich wie ein roter Faden durch seine Biografie. «Meine Liebe zum Meer, dessen ungeheure Einfachheit ich der anspruchsvollen Vielgestalt des Gebirges immer vorgezogen habe, ist so alt wie meine Liebe zum Schlaf», schrieb er einmal. Und an einer anderen Stelle: «Das Meer, sein Rhythmus, seine musikalische Transzendenz ist auf irgendeine Weise überall in meinen Büchern gegenwärtig, auch dann, wenn nicht, was oft genug der Fall, ausdrücklich davon die Rede ist.» Die Idee, über die Beziehung zum Meer einen neuen Zugriff auf Thomas Manns Leben zu bekommen, ist also nur naheliegend.
Volker Weidermann, Feuilletonchef der «Zeit» und Autor einiger sehr erfolgreicher Bücher wie «Ostende. 1936, Sommer der Freundschaft», beschreitet in seinem neuen Werk «Mann vom Meer» genau diesen Weg und erlaubt so einen sinnlich-emotionalen Zugang zu Thomas Mann. Er nimmt uns mit an gleißende Ostseestrände, an denen die Familie Mann bis zu ihrer Emigration im Jahr 1933 viele entspannte Ferienaufenthalte verbrachte. Wir reisen mit ihm an den Lido von Venedig oder auf die Insel Sylt, wo sich der gefeierte Schriftsteller erotischen Träumereien hingab, und begleiten ihn bis an die kalifornische Pazifikküste, die ihm zu einem Ruhepol im Alter wurde.
Travemünde als Paradies
Immer wieder schlägt Weidermann die Brücke zu den Erzählungen und Romanen des Schriftstellers. Er zeigt, wie die realen Erlebnisse und Sinneseindrücke in verschiedenen Lebensphasen und an unterschiedlichen Meeresgestaden sein fiktionales Werk beeinflussten – beginnend mit den «Buddenbrooks», über «Der Tod in Venedig» und «Tonio Kröger» bis hin zu «Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull».
Allerdings greift Weidermann über die Biografie Thomas Manns hinaus. Denn er zeigt, dass der Bezug der Familie Mann zum Meer schon viel früher begann, nämlich mit der Mutter des Schriftstellers Julia da Silva-Bruhns. Diese wuchs an der tropischen Küste Brasiliens auf und gab die Erinnerung an ihre versunkene Jugend, an ihr Paradies unter Palmen, an ihre Kinder weiter.
Für Thomas Mann selbst wurde Travemünde zum Paradies seiner Kindheit. Im Alter von sieben Jahren sah er an der Lübecker Bucht erstmals das Meer. Ab 1882 verbrachte er hier jedes Jahr als Kind vier Wochen Sommerferien und erinnerte sich noch als «gefeierter Weltmann» daran: «An diesem Ort, in Travemünde, dem Ferienparadies, wo ich die unzweifelhaft glücklichsten Tage meines Lebens verbracht habe, Tage und Wochen, deren tiefe Befriedigung und Wunschlosigkeit durch nichts Späteres in meinem Leben, das ich doch heute nicht mehr arm nennen kann, zu übertreffen und in Vergessenheit zu bringen war.»
Neuer sinnlicher Zugang
Das Meereserlebnis, so Weidermann, habe Thomas Mann in den Buddenbrooks «seinem frühen Untergangsprinzen» Hanno mitgegeben. Und die arme Tony Buddenbrook lässt er in Travemünde bei einem «Traumaufenthalt am Meer» ihre einzige Liebe erleben, die sie durch alle künftigen Tragödien tragen wird. Thomas Mann selbst suchte sein Leben lang nach einer Wiederholung seines Kindheitsglücks an anderen Stränden, so an der Wanderdüne von Nidden an der Kurischen Nehrung, wo er für seine Familie sogar ein Haus kaufte, bis die Nationalsozialisten sie aus diesem Paradies vertrieben.
Wie schon der Anfang so greift auch das Ende des Buchs über die Biografie Thomas Manns hinaus. Denn zuletzt widmet sich der Autor der Lieblingstochter des Schriftstellers Elisabeth Mann Borgese. Ihre Beziehung zum Meer allerdings war weit prosaischerer Natur als die ihres Vaters, war sie doch eine bekannte und anerkannte Seerechtsexpertin. Das ist dann ein ganz eigenes Kapitel, das separat erzählt werden müsste.
Weidermanns fast schon poetisch geschriebenes Buch vermittelt einen neuen sinnlichen Zugang zu Thomas Mann. Es ist allerdings kaum als Einstiegsbuch geeignet, sondern eher «Thomas Mann für Fortgeschrittene».
– Volker Weidermann: Mann vom Meer. Thomas Mann und die Liebe seines Lebens, Kiepenheuer & Witsch, Köln, 240 Seiten, 23,00 Euro, ISBN 978-3-462-00231-7.