Die indonesischen Kuratoren der documenta in Kassel haben nach eigenen Worten die Bedeutung der Kunstschau für die deutsche Öffentlichkeit unterschätzt. «In Indonesien schert sich niemand groß um uns.
Die documenta ist dagegen fast eine Staatsangelegenheit. Diese Größenordnung hätte uns früher klar sein müssen», sagten Reza Afisina und Farid Rakun, Mitglieder des Kuratorenkollektivs Ruangrupa, dem Berliner «Tagesspiegel» (Montag).
Es gäbe kulturelle Missverständnisse
«Für uns kamen die ersten Antisemitismus-Vorwürfe im Januar unerwartet. Wir hätten nie gedacht, dass es so eskalieren würde», erläuterten die beiden in dem Interview. Als sich Politik und Medien einschalteten, sei «eine neue Dynamik» entstanden. «Daraus haben wir gelernt, dass wir besser erklären müssen, was wir machen.» Die «documenta fifteen» wird seit Monaten von Antisemitismus-Vorwürfen begleitet. Mehrere Werke wurden als judenfeindlich kritisiert.
Es gebe auch kulturelle Missverständnisse, sagten Afisina und Rakun. In Indonesien habe lange der Zugang zu Informationen von außerhalb gefehlt. «Manche nennen uns deshalb naiv, ignorant oder unsensibel, aber wir haben unsere eigenen Traumata aufzuarbeiten», sagte Afisina. Man lerne ständig dazu, das solle gerade die «Qualität» der documenta fifteen sein, «dass sie keine abgeschlossene Ausstellung ist, sondern sich überall noch etwas verändern kann».
Zu den bei der documenta als antisemitisch bewerteten Ausstellungsexponaten gehörten Werke der Künstlergruppe Taring Padi.
«Als die Vorwürfe aufkamen, haben wir nicht verstanden, warum man nicht direkt mit uns spricht, es keinen Dialog gab», sagte Afisina. «In Indonesien gibt es anders als in Deutschland noch kein richtiges Vokabular dafür, um zu artikulieren, was ein antisemitisches Motiv ist.» Und: «Erst durch die Debatte haben wir begriffen, welch sensibles Thema Antisemitismus in Deutschland ist.»
Das Kollektiv ist kein Monolith
Afisina erläuterte, warum sich das Kollektiv erst recht spät zu den Antisemitismus-Vorwürfen geäußert habe: «Nach dem ersten Zwischenfall mit Taring Padi haben wir zunächst Gespräche geführt. Wir verstehen einfach nicht, dass es hier nicht ausreicht, wenn wir öffentlich diesen Fehler eingestehen und uns insbesondere bei den Menschen in Kassel entschuldigen, mit denen wir uns verbunden fühlen. Bei uns wird ein Fehler genannt, man ordnet ihn ein und macht dann weiter. Hier hört keiner richtig hin, obwohl es uns gerade um den Dialog geht – das ist doch das Thema der documenta fifteen. Es gibt gar nicht den Wunsch, einander zu verstehen.»
Zur israelfeindlichen Boykott-Bewegung BDS sagte Farid Rakun, bei Ruangrupa gebe es «diverse Haltungen zum BDS ebenso wie zur indonesischen Politik». «Ich selbst würde nur boykottieren, wenn es keinen anderen Weg mehr gäbe. Ich bin kein Fan dieser Strategie, aber ich verstehe, dass BDS eine mögliche Methode ist, friedlich, aber hörbar zu protestieren.»
Das Kollektiv sei «kein einheitlicher Monolith», betonte Rakun. «Deshalb fragen wir als künstlerische Leitung bei den eingeladenen Künstlerinnen und Künstlern nicht vorab politische, religiöse oder andere Zugehörigkeiten ab. Die Beteiligung an der documenta beruht vielmehr auf gemeinsamen Werten wie Unabhängigkeit, Transparenz, Genügsamkeit, Nachhaltigkeit».
Zur Frage, ob das Kollektiv nochmal eine Großausstellung kuratieren würde, sagte Afisina, es fehle ihnen, in Kassel nicht selbst künstlerisch mitmachen zu können, da sie ja eigentlich alle selbst Künstlerinnen und Künstler seien. «Trotzdem haben wir eine gute Zeit.» Außerdem sagte Afisina – laut «Tagesspiegel» lachend: «Wir würden gerne an der nächsten documenta teilnehmen.»
Unterdessen kritisiert der frühere Rektor der Städelschule Frankfurt, Philippe Pirotte, die Debatte über die documenta: «Das Problem ist, dass wir in eine Situation geraten sind, in der man schon fast nicht mehr miteinander reden kann», sagte er der Frankfurter Rundschau (Dienstagsausgabe). «Es wurden nur Bekenntnisse gefordert, statt Dialoge zu schaffen.» Die Bereitschaft zu lernen, die Ruangrupa vorgeschlagen habe, sei «in Deutschland ziemlich autoritär beantwortet worden», sagt er. Man müsse bei Kunstwerken den Kontext sehen: «Um zu erkennen, welche Intention dahintersteckt, muss man verkomplizieren. Nicht vereinfachen.»