Die wenigsten Weltkarrieren beginnen mit einem Abschied. Oder einer Niederlage. Und schon gar nicht mit Abschied und Niederlage zugleich und auch noch damit, dass eine halbe Nation schluchzend vor dem Fernseher sitzt. Aber so war das in Deutschland am 23. November 1996. An jenem Samstagabend verlor Box-Weltmeister Henry Maske seinen letzten Kampf, entschuldigte sich bei den Fans und weinte dann vor sich hin. Dazu ertönte ein Lied, das bis dahin kaum jemand kannte: «Time to Say Goodbye» von Andrea Bocelli. Heute wird der Italiener, inzwischen Weltstar, 65.
Um der Wahrheit Ehre zu geben: Es war dann doch kein echter Abschied. Der «Gentleman-Boxer» aus Ostdeutschland stieg später noch einmal in den Ring, gegen denselben Gegner, Virgil Hill aus den USA, und gewann. Bocelli sang den Song nicht allein, sondern mit der Engländerin Sarah Brightman. Und mit dem Original «Con te partirò» («Mit Dir werde ich gehen») hatte er das Jahr zuvor in seiner Heimat beim Sanremo-Festival immerhin schon Platz vier belegt.
Das für Maske neu betitelte Lied bedeutete aber den Durchbruch. Zunächst rannten die Deutschen in die Plattenläden, was man damals noch so machte. «Time to Say Goodbye» wurde die bestverkaufte Single aller Zeiten. In anderen Ländern ging es ähnlich weiter. Die Kritik mäkelte Schnulze, die Masse kaufte: Kitsch vielleicht, aber zum Heulen schön. Die kanadische Sängerin Céline Dion, auf diesem Gebiet durchaus Konkurrenz, sagte: «Wenn Gott eine Stimme hätte, klänge sie wie Andrea Bocelli.»
Tritt gerne in Deutschland auf
Heute gehört der Ausnahmetenor bei den ganz großen internationalen Terminen zur Stammbesetzung: Er sang zu Weihnachten beim Papst, bei Fußball-Weltmeisterschaften, auf Empfängen diverser US-Präsidenten, bei Promi-Hochzeiten. Und auch, als die Queen 70 Jahre auf dem Thron feierte und einige Monate danach, als Charles nach dem Tod der Mutter doch noch König wurde. «Aber Deutschland ist für mich mit all den Erinnerungen immer noch etwas Besonderes», so Bocelli. Im Oktober kommt er nach Oberhausen, Mannheim, Leipzig und Berlin.
An seine Blindheit haben sich die meisten gewöhnt. Die Zeiten, dass er klagte «Die Tragödie ist, dass die Leute nicht aufhören, um etwas Aufhebens zu machen, was sie als tragisch empfinden – aber ich nicht» sind vorbei. Als Bocelli zur Welt kam, war sein Sehvermögen durch einen angeborenen Grünen Star bereits beeinträchtigt. Mit zwölf wurde der Junge aus der Toskana von einem Fußball im Gesicht getroffen. Wenig später war er blind. Trotzdem reitet er bis heute, fährt Ski und – mit Hilfe – auch Motorrad.
Fast zeitgleich mit der Erblindung gewann Bocelli seinen ersten Gesangswettbewerb. Zudem lernte er Klavier, Flöte, Klarinette und Saxofon. «Mein Herz schlägt immer schon für die Musik. Ich habe schon als Kind den Meistertenören nachgesungen.» Sein Idole hießen damals Mario Lanza und Franco Corelli. Nach dem Abitur studierte er Jura und arbeitete als Rechtsanwalt.
Bis ihn 1992 der italienische Softrocker Zucchero entdeckte, der sich bei Luciano Pavarotti eine Absage eingehandelt hatte und nun auf der Suche nach einem anderen Tenor war. In den ersten Jahren der Karriere sang Bocelli hauptsächlich Pop. Später verlagerte er den Schwerpunkt auf Klassik, trat in bekannten Opernhäusern auf und auch bei Pavarotti&Friends. Die ganz große Anerkennung bekam er in der klassischen Fachwelt aber nie. Egal: Mit seinem Album «Sì» schaffte er es 2018 erstmals sogar auf Platz eins der US-Albumcharts. Fürs jüngere Publikum ging er mit Dua Lipa und Ed Sheeran ins Studio.
Mehr als ein Hit
Alles in allem hat Bocelli bis heute mehr als 85 Millionen Tonträger verkauft. Im Gedächtnis ist auch ein Auftritt während der Corona-Zeit, ganz allein im Mailänder Dom. Das 25-Minuten-Video «Music for Hope» («Musik zur Hoffnung») wurde auf Youtube inzwischen mehr als 40 Millionen Mal geklickt. Der große Tröster: Auch auf Beerdigungen gehört «Time to Say Goodbye» zum Standard. Ihm selbst ist egal, was eines Tages gespielt wird. «Wenn ich einmal tot bin, können die, die mich überleben, machen, was sie wollen.»
Mit seiner zweiten Ehefrau Veronica Berti lebt Bocelli im noblen Badeort Forte dei Marmi an der Küste der Toskana. Die beiden haben eine Tochter. Mit dem jüngsten seiner beiden Söhne aus erster Ehe, Matteo, tritt Bocelli inzwischen manchmal gemeinsam auf. Pünktlich zum 65. Geburtstag des Vaters erscheint dessen erstes Album. Andrea Bocelli selbst verbringt den Tag nach zwei Konzerten in Madrid ohne große Feier – noch längst keine Zeit, Abschied zu nehmen.