Wie hübsch der Schriftzug der Apotheke ist. Wie altmodisch das «Express-Reinigung West» an der Fassade aussieht, wie mondän die «Paris Bar». Oder das «Delphi», aus Zeiten, als Kinos noch «Lichtspiele» oder «Filmpalast» hießen.
Hat man einmal angefangen, eine Stadt so anzugucken wie Jesse Simon, sieht man überall Buchstaben, Wörter, Logos, Firmennamen und Schriftzüge. Und mit ein bisschen Glück auch noch die alten Neonröhren aus der Nachkriegszeit, für die sich Simon so richtig begeistern kann.
Spaziergänge mit der Kamera
Der Autor, Dozent und Designkenner hat zur Berliner Typographie ein Buch veröffentlicht und zeigt bei Twitter, wie unterhaltsam Buchstaben im Alltag sein können. Simon geht gerne mit der Kamera spazieren, ob im brandenburgischen Finsterwalde oder Ludwigsfelde, in Düsseldorf und Nürnberg. Oder auch in Köln, da hat er gleich das riesige Logo von «Kölnisch Wasser» im Hauptbahnhof gesichtet.
«Ich kann mir nicht Besseres vorstellen, als mit der Kamera durch Deutschland zu reisen und einfach nur nach Schildern zu gucken», sagt er. Simon (45) mag bei der Arbeit an seinen Büchern den Prozess des Entdeckens, einfach ins Blaue zu fahren oder einem Tipp zu folgen, den er bei Twitter bekommen hat.
Treffpunkt zum Interview ist der U-Bahnhof Konstanzer Straße im alten Westen Berlins. Dort hängen noch deutlich mehr alte Schriftzüge als im Osten, wo nach dem Mauerfall viele Spuren aus DDR-Zeiten verschwanden. Der U-Bahnhof leuchtet in Orange, einer in den 70er Jahren sehr beliebten Farbe, die seitdem viel geschmäht wurde. Heutzutage weicht sie oft Grau, hat Simon beobachtet. «Das ist nicht langweilig, aber vorhersehbar.» Nach dem Motto: Es soll modern aussehen, dann nehmen wir doch Grau.
Orange sind auch die wie handgeschrieben wirkenden Buchstaben der «Konstanzer Apotheke», die Simon zeigt. Überhaupt, Apotheken. Da hat Simon eine in der Gestaltung überraschend große Bandbreite ausgemacht. Für sein Buch «Berlin Typography» (Prestel) hatte er etwa 30 verschiedene Apotheken zur Auswahl. Oft sind sie schon lange im Geschäft, was einige Ladenaufschriften überleben lässt.
Auch die Aufschriften von Blumenläden prägen Fassaden, oft in Gelb und Grün. Über dem «u» sitzt manchmal ein kleiner Haken, um es vom «n» zu unterscheiden. Auf der Karl-Marx-Allee im Osten Berlins hat das schnörkelige, unter Denkmalschutz stehende «Café Sibylle» überlebt. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ist die Blütezeit der Neonröhren, wie Simon im Buch erklärt. Der «Coiffeur», die Eisdiele («ital. Eis») oder auch der Bestatter warben damit.
Simon hat, so erzählt er es, bei seinen Streifzügen meist ein erstes Bauchgefühl. Wenn er sich einem Laden nähert, schaut er, was es für ein Laden ist: vielleicht für Stahlwaren oder eine Bäckerei. Dann guckt er auf das Material der Buchstaben, ob es Neon oder auch eine gemeißelte Schrift ist. Direkt davor sieht er auf die Buchstaben selbst: Sind sie alt oder täuschen sie nur vor, alt zu sein? Dann ist er ein bisschen enttäuscht. Bei Neon guckt er, ob es noch heil ist, dann wird er es auch leuchtend im Dunkeln fotografieren.
Manchmal bleiben die Schriftzüge noch, wenn das Geschäft längst geschlossen ist. Das weckt nostalgische Gefühle. Diese «Geister in Buchstabenform» erzählen immer auch von der Vergangenheit der Stadt, die man selbst nie erlebt hat, wie der Journalist Christoph Amend im Vorwort zu Simons Buch schreibt.
Retro und schick wie Omas Teak-Möbel
Es ist ein Wettlauf mit der Zeit, denn kleine Läden und ihre Schriftzüge verschwinden oft, ersetzt von Ketten und LED-Technik. «Wie lange es die alten Ladenaufschriften in einer sich so rasant verändernden Stadt wie Berlin noch geben wird, lässt sich schwer sagen», schreibt Simon. Alles hat seine Zeit. Bis die Leute entdecken, dass Neon genauso retro und schick sein kann wie Omas dänische Teak-Möbel, ist es manchmal schon zu spät.
Simon, promovierter Historiker, sagt: «Wir sind in sehr interessanten Zeiten – und das passiert mit allem, Typographie, Farben, Design: Dinge, die vor 40 oder 50 Jahren populär waren, haben vor 10 Jahren den Punkt erreicht, als sie am wenigstens populär waren. Und jetzt kommen sie zurück.» So kann es sein, dass ein Schriftzug wie «Fleischerei» wieder Liebhaber findet und überlebt, auch wenn im Geschäft längst keine Leberwurst mehr verkauft wird.
Besonders gern hat Jesse Simon, der einen britisch-amerikanischen Hintergrund hat, das Eszett («ß») oder auch die typisch deutschen Umlaute. Werden die mit einem zusätzlichen «e» oder mit Pünktchen oder Strichen markiert? Wie sehen die Pünktchen aus und wo sitzen sie? So viele Möglichkeiten, die bei jedem der drei Umlaute anders sein können. Wenn er einen Favoriten unter all den Schildern nennen müsste, dann wäre es «Betten-König» in Lichtenrade. Das ist der große Schriftzug, mit dem sein Berliner Typographie-Projekt 2016 begann. Den findet er richtig schön. Besonders die Schreibweise des «ö». Die Umlaut-Punkte sehen wie ein kleiner Blitz aus.
Simons Erfahrung: Berlin kann einen als Stadt überwältigen. Aber man kann anfangen, auf bestimmte Dinge zu achten, auf Nachkriegsarchitektur, die U-Bahnhöfe oder eben die Buchstaben auf den Läden, Straßenschildern und Wohnhäusern. Die kleinen Dinge helfen, sich im Großen zurechtzufinden. Eigentlich ein Tipp, der sich für viele Reisen eignet.