Mit einem virtuos vorgetragenen Text über Familie und Transgeschlechtlichkeit hat der Autor Jayrome C. Robinet das diesjährige Wettlesen um den Ingeborg-Bachmann-Preis eröffnet. Der aus Frankreich stammende und in Berlin lebende Sprachkünstler und -performer erzählte in seinem unveröffentlichten Romanfragment über einen Transmann und dessen Schwangerschaft sowie über dessen liebevolle und zugleich traumatische Kindheit.
Jurorin Mara Delius lobte den Text wegen seiner «vorsichtigen, etwas sachte schwebenden Sprache». Die Jury zollte auch dem musikalischen Vortrag Robinets Respekt, kritisierte jedoch seinen konventionellen Stil und die nicht ausgeführten Erzählstränge des Autors. Robinet hatte 2019 sein autobiografisches Buch «Mein Weg von einer weißen Frau zu einem jungen Mann mit Migrationshintergrund» veröffentlicht.
Valeria Gordeev begeistert die Jury
Einhelliges Lob erntete die aus Tübingen stammende Valeria Gordeev mit ihrer präzisen Beschreibung eines Mannes mit Putzneurose. Der Text behandelte am Ende weit mehr als die dargestellte Zwangsstörung. «Es ist ohne Zweifel einer der Lieblingstexte, die es dieses Jahr in dem Bewerb gibt», befand Juror Klaus Kastberger.
Viel Kritik musste die in München geborene Anna Gien für ihre in Tagebuch-Einträge gefassten Traumsequenzen einstecken, die das Gefühlsleben einer Frau um die 30 offenlegten. Aus Sicht des Jurors Philipp Tingler handelt es sich um Prosa, die auch von Künstlicher Intelligenz erstellt worden sein könnte. «Das ist so, wie wenn man bei ChatGPT eingibt: «Schreib mir einen Bachmann-Text»», meinte er.
Andreas Stichmann («Eine Liebe in Pjöngjang») spaltete mit seinem Text über einen 65-Jährigen und seine Lebenskrise die Jury. «Fad und langweilig», meinte Kastberger, während Jurorin Insa Wilke positive Vergleiche zu dem Humoristen Loriot und der Zeichentrickfigur Homer Simpson zog.
Die zwölf Teilnehmenden präsentieren bis Samstag ihre Texte bei den 47. Tagen der deutschsprachigen Literatur (3sat überträgt). Am Sonntag werden die Auszeichnungen vergeben – allen voran der mit 25.000 Euro dotierte Hauptpreis, der an die österreichische Literatin Ingeborg Bachmann (1926-1973) erinnert. Voriges Jahr gewann ihn die aus Slowenien stammende und in Österreich lebende Autorin Ana Marwan.