Für die Bestsellerautorin Juli Zeh ist Deutschlands nördlichste Insel Sylt eine Art Symbol und steht vor allem auch für Nostalgie. «Deutschland hat nicht viele Inseln, nur diese eine gilt als mondän. Insofern wird alles schnell hochgejazzt, was dort geschieht», sagt die Autorin im «Stern».
«Sylt ist kein Brennglas, wo man gesellschaftliche Verdichtungen besonders gut begutachten könnte. Die Schere zwischen Arm und Reich wird größer, die Gesellschaftsschichten driften vielleicht auseinander, stehen sich feindlich gegenüber. Mehr als ein Symbol ist aber Sylt für diese Entwicklung nicht.» Als Symbol dafür sei Sylt aber «unschlagbar» – «und das bedeutet, dass die Leute es als solches ernst nehmen.»
Sylt stehe für «keine Art von Eskapismus»
Vor zwanzig Jahren verbrachte Zeh («Unter Leuten», «Zwischen Welten») einige Monate auf Sylt als Inselschreiberin. Beim besonders edlen Ort Kampen auf Sylt fiel Zeh (49) die Mode auf, «dass Mutter und Töchter grundsätzlich das Gleiche tragen, bei den Klamotten wie der Frisur». «Gleiches gilt für Väter und Söhne. Das sah so bizarr aus, dass mein Mann und ich überlegten, einen Satire-Text über «Die Kinder von Kampen» zu schreiben. Dafür hätten wir aber öfter als einmal nach Kampen gemusst, also ließen wir es.»
Insgesamt sieht Zeh in der Vorliebe fürs beschauliche Sylt «keine Art von Eskapismus oder gar Globalisierungsverweigerung der Oberschicht». «Nach einer Woche Hongkong darf es eben auch mal das nette und überschaubare Kampen sein.» Sie meint, die gleichen Leute flögen zum Shoppen nach New York «und haben sicher auch ein Domizil an der Côte d’Azur oder in St. Moritz».
Zeh: «eine fast aristokratische Oberschicht»
Sylt sei vor allem eine Art BRD-Idyll, Nostalgie, stehe «für einen Retro-Mythos», sagt Zeh. «Die oberen Zehntausend leben ihre Sehnsucht nach einer guten alten Zeit aus, in der sie in diesem profanen, biederen Westdeutschland eine fast aristokratische Oberschicht spielen durften.» In Ostdeutschland habe Rügen einen ähnlichen Status. «Wenn es um Rügen geht, gibt es die gleichen Debatten und Auseinandersetzungen: Ist die Insel zu sehr gentrifiziert, können sich die Bewohner ihre eigene Insel noch leisten?»
Zeh hält sich nach eigenen Worten besonders gern auf der zu Spanien gehörenden Kanarischen Insel Lanzarote auf. «Das Weltgebrause ist hier tatsächlich deutlich weniger zu vernehmen.» Viele Sorgen und Ängste, die man auf dem Festland habe, spielten keine Rolle. «Ich muss zugeben, dass es mir angenehm ist, weil es viel mehr um das Hier und Jetzt geht, um das Zusammensein, um den Abendhimmel. Man driftet viel weniger in politische Räume, in die Zukunftsfragen. Ich will das nicht bewerten, aber es findet statt.»