Sie ist sechzehn, er ist siebzehn und unsterblich verliebt. Eine zarte Beziehung, irgendwann und irgendwo in Japan. Der Bestsellerautor Haruki Murakami webt eine faszinierende Liebes- und Lebensgeschichte in seinem neuen Roman «Die Stadt und ihre ungewisse Mauer» und lässt dabei reale und surreale Welt verschwimmen.
Genau zum 75. Geburtstag des japanischen Schriftstellers an diesem Freitag (12. Januar) erscheint der Titel hierzulande – und wie so oft bei Murakami bewegen sich die Protagonisten zwischen Traum, Wirklichkeit, Fantasie, Fiktion. Murakami gehört zu den bedeutendesten Autoren der japanischen Gegenwartsliteratur und genießt auch im Westen Kultstatus.
Seine neue Erzählung spielt mit Übernatürlichem, auf mehreren Ebenen und immer wieder zieht eine geheimnisvolle Stadt hinter einer unüberwindbaren Mauer in den Bann. Der Ich-Erzähler, der auf den über 600 Seiten namenlos bleibt, sehnt sich nach dem Mädchen, das nach einem innigen und romantischen Jahr plötzlich ohne Erklärung verschwindet. «Mein wahres Ich lebt in der Stadt mit der hohen Mauer», hatte sie einmal gesagt. Niemand könne dort einfach so hinein- oder hinausgelangen. Aber für ihn, den 17-Jährigen, gebe es dort einen Platz als Traumleser.
Und so beginnt für den Heranwachsenden die Suche nach seiner Angebeteten und ein mysteriöser, fließender Wechsel zwischen den Welten. Er findet die seltsame Stadt, liest dort Abend für Abend alte Träume, die sich in einer Bibliothek stapeln. Ihm gegenüber sitzt die Liebe seines Lebens – aber, schmerzhaft: Hier erkennt sie ihn nicht.
Der Roman entstand in der Pandemie
Murakami, reisefreudig und viel unterwegs, hat den Roman unter den «ziemlich seltsamen und angespannten Bedingungen» der Pandemie verfasst. «Anfang März 2020, als das Virus in Japan zu wüten begann», legt er los, schrieb Tag für Tag, verließ kaum das Haus, bis er das Buch Ende 2022 fertigstellte, wie der Autor im Nachwort anfügt.
Ungewöhnlich: Der Ursprung des Werks ist eine etwa 100-seitige gleichnamige Erzählung, die er nach seinem Studium 1980 – damals noch als Betreiber einer Jazzbar in Tokio – in einer Zeitschrift veröffentlicht hatte. Damals war Murakami nicht überzeugt von der Erzählung, wollte sie später einmal gründlich überarbeiten, wie er weiter im Nachwort ausführt. Denn: «Der Text hat mich immer beschäftigt, ja gestört, wie eine kleine Gräte, die in meiner Kehle feststeckte. Diese kleine Gräte war sehr wichtig für mich (als Schriftsteller und als Mensch)».
Zunächst kam es aber anders. Murakami schrieb einige Romane, spätestens mit «Naokos Lächeln» 1987 gelang ihm der Durchbruch. Dutzende Titel folgten. Murakamis Bücher – in mehr als 40 Sprachen übersetzt – werden weltweit von vielen Millionen Menschen gelesen. Zuletzt landeten «Die Ermordung des Commendatore» (2018), «Die Chroniken des Aufziehvogels» (2020) oder «Erste Person Singular» (2021) auch ganz oben in den deutschen Bestsellerlisten. Einige Werke wurden verfilmt.
Schatten spielen eine wichtige Rolle im neuen Roman
Murakami rückt Mauern – reale wie metaphorische – und deren Überwindung ins Licht. Philosophische Fragen etwa nach Seele, Selbstfindung, Unterbewusstsein schwingen mit. Auch der Schatten ist wichtig, bekommt diesmal ein Eigenleben. Der Protagonist muss seinen Schatten beim strengen Torwächter zurücklassen, um Zutritt zu der Stadt zu bekommen, in der es keine Zeit gibt und Gefühle als nutzlos gelten. Für den Schatten beginnt ein tristes Dasein, er bettelt später arg geschwächt um eine gemeinsame Flucht. Die scheint zu gelingen – jedenfalls gerät der junge Erzähler unter rätselhaften Umständen zurück in die Welt jenseits der Mauer.
Er zieht nach Tokio, studiert lustlos, arbeitet danach lange im Buchhandel, hat ein paar bedeutungslose Beziehungen, fühlt sich einsam und leer. Mit Mitte vierzig beschließt er einen Neuanfang, nimmt eine Stelle in einer alten Bibliothek an – weit entfernt in einem kleinen Nest in der Präfektur Fukushima. Und wieder kommt es zu übersinnlichen und übernatürlichen Ereignissen. Ungewöhnliche Personen werden zu Pfeilern seines Lebens – und die ummauerte Stadt lässt ihn niemals los.
Murakami ist erleichtert über die Roman-Vollendung
Der Schriftsteller, der auch lange in den USA und in Europa lebte und von westlicher Kultur geprägt ist, hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten. Im vergangenen Herbst wurde ihm der renommierte Asturienpreis für Literatur verliehen, weil er das Erbe westlicher Kultur mit japanischer Tradition vereine. Öfters wurde er als möglicher Literaturnobelpreisträger gehandelt. Doch bisher kam der Anruf aus Stockholm nicht.
Der Starautor lebt in Tokio, wo an der Elite-Universität Waseda eine Murakami-Bibliothek eingerichtet wurde – mit Büchern, Manuskripten, Übersetzungen aus seiner Feder oder auch Schallplatten aus seiner gewaltigen Sammlung. Der Langstreckenläufer hat Dutzende Marathons bewältigt, ist Baseballfan und stapelt nach eigenem Bekunden T-Shirts aller Art – vor allem von seinen Reisen – gefaltet in Kartons.
Am Ende des neuen Buches, in dem auch Humor und schlagfertige Dialoge stecken, klingt es etwas nach einer Bilanz des nun seit rund 45 Jahren schreibenden Autors. Er sei erleichtert, dass er die ursprüngliche Geschichte nun in neuer Form vollenden konnte, schreibt Murakami. Und: «Die Wahrheit liegt nicht im unveränderlichen Stillstand, sondern im steten Wandel. Das ist das Wesen des Erzählens, wie ich es sehe.»
Haruki Murakami, Die Stadt und ihre ungewisse Mauer, DuMont Köln, aus dem Japanischen übersetzt von Ursula Gräfe, 640 Seiten, ISBN 978-3-8321-6839-1