Von «Oxygène» zu «Oxymore»: Zwischen den Alben liegen nicht nur mehr als 40 Jahre, sondern auch Welten. Mit seinen instrumentalen Synthesizermelodien revolutionierte Jean-Michel Jarre 1976 die Musikwelt – und schaffte seinen internationalen Durchbruch als Gottvater der Elektro-Musik. 2022 komponierte er eines der ersten Alben in sogenannten 360-Grad-Klängen: Sounds und Melodien, die von allen Seiten kommen – von oben und unten, von rechts und links.
Neue Soundsysteme, Metaverse, virtuelle Realität: Der Musiker und Komponist, der an diesem Donnerstag (24. August) 75 Jahre alt wird, war seiner Zeit schon immer voraus. Er fühle sich privilegiert, Zeuge und Akteur dreier revolutionärer Momente in der Musikgeschichte gewesen zu sein, sagte er im Interview der Deutschen Presse-Agentur. Und führte auf: die Anfänge der elektronischen Musik, die Entstehung des digitalen Zeitalters und der Beginn immersiver Klänge.
Er war seiner Zeit immer voraus
Jarre macht seit nunmehr über 40 Jahren seinem Namen als Avantgardist alle Ehren. Es gäbe Menschen, die es nicht wagten ihre Komfortzone zu verlassen, sagte er der Zeitung «Nice-Matin». Daran, etwas zu tun, was er vor zwanzig oder mehr Jahren getan habe, habe er kein Interesse.
Und so hat der 1948 in Lyon geborene Künstler immer seine Nase weit vorne: In Zeiten von Disco und Punkrock komponierte und produzierte er mit «Oxygène» ein Instrumental-Album der E-Musik. Im Dezember 1976 wurde es mit einer kleinen Erstauflage in Frankreich veröffentlicht, im Juli 1977 dann weltweit. Heute ist es mit über 18 Millionen verkauften Alben der erfolgreichste französische Tonträger aller Zeiten. Seit Beginn seiner Karriere hat er über 85 Millionen Alben abgesetzt.
Auf «Oxygène» folgten «Equinoxe» und «Magnetic Fields», Millionen-Seller. Experimentierfreudiger zeigte er sich dann wieder in «Zoolook» aus dem Jahr 1984. Verstärkt arbeitete er erstmals mit Sprachfetzen unterschiedlicher ethnischer Gruppen, die er verfremdete und zu Klangkollagen verarbeitete.
Neu war darauf auch der Einsatz von Gastmusikern – etwas, auf das er später auch auf «Electronica 1» und «Electronica 2» zurückgriff, die jeweils 2015 und 2016 erschienen sind. Er vereinte bedeutende Künstler wie Massive Attack, Pete Townshend und Moby. Wie er dem Portal «Planet Interview» sagte, hatte er eine sehr persönliche Vorstellung von diesen Musikern, die er zum Klingen bringen wollte.
Gigantische Spektakel
Als einer der ersten sorgte er auch mit Megakonzerten an außergewöhnlichen Orten für Schlagzeilen. «Zu einem Konzert zu gehen und jemandem dabei zuzusehen, wie er hinter einem Keyboard oder einem Laptop steht, ist weder sexy noch visuell besonders beeindruckend», sagte er der dpa.
Und so spielte er als erster westlicher Musiker nach dem Tod von Mao Tsetung 1981 in China. Anlässlich des Besuches von Papst Johannes Paul II. trat er 1986 in seiner Geburtsstadt Lyon auf und in Ägypten spielte vor den Pyramiden von Gizeh. Seine gigantischen Musik- und Lichtschau-Spektakel zogen Millionen von Zuschauern an, wie etwa 1990 im Pariser Banken- und Hochhausviertel La Defense. Die mehr als zwei Millionen Menschen standen bis zum Pariser Triumphbogen.
Er taucht als Avatar in virtuelle Welten ein
Eine rekordverdächtige Zuschauerzahl lockte der Klangmeister mit seinem Notre-Dame-Live-Reality-Konzert am 31. Dezember 2020 an. «Welcome to the Other Side» (dt: Willkommen auf der anderen Seite) hieß das 45-minütige virtuelle Konzertereignis. Jarre spielte ab 23.25 Uhr live in einem Studio unweit der Notre-Dame, während zeitgleich sein Avatar in der 3D-Rekonstruktion des gotischen Gotteshauses auftrat, das im April 2019 bei einem Großbrand beschädigt wurde.
Jarre glaubt an die virtuelle Realität als eigene und vollwertige Ausdrucksweise. Virtual-Reality sei heute für Live-Shows, was Kino in seinen Anfängen im Vergleich zum Theater war. «Als vor 125 Jahren das Kino erfunden wurde, haben die Schauspieler auch nicht direkt vor einem Publikum gespielt und gesprochen», sagte er.
So hat er für sein Album «Oxymore», das 2022 erschienen ist, die imaginäre Stadt Oxyville geschaffen, in der man herumschlendern, tanzen und Jarre als Avatar am Keyboard erleben kann. Es sei faszinierend und auch verwirrend gewesen, wie schnell er den Aspekt des Avatars vergessen habe und in die virtuelle Welt abgetaucht sei, sagte Jarre.
«Oxymore» hat nicht mehr viel mit Jarres Klassikern «Oxygène» und «Equinoxe» zu tun. Statt poppige Elektrosounds und gefällige Orgel-Phaser-Klänge ertönen von allen Seiten transformierte Stimmen und raue Sequenzen. Und dennoch schließt sich mit seinem jüngsten Album gewissermaßen der Kreis: Denn mit seinen 360-Grad-Sounds und virtuellen Konzerten bleibt Jarre ein Pionier.