Wie es sich anfühlt, mit Morddrohungen und Beleidigungen zu leben, weiß Sawsan Chebli ziemlich genau. Seit die SPD-Politikerin und frühere Staatssekretärin Twitter für ihre Arbeit nutzt, erfährt sie dort regelmäßig Hass und Hetze. Auch wenn das mittlerweile zu ihrem Alltag gehört – kalt lässt es sie nicht. Braut sich auf Twitter ein Shitstorm über ihr zusammen, sagt Chebli, beginne ihr Herz immer noch zu rasen.
Chebli berichtet darüber in einem neuen Buch, das sie gemeinsam mit der Autorin Miriam Stein geschrieben hat. Dafür hat sie mit Netz-Expertinnen und Experten gesprochen, mit Mitarbeitern des Facebook-Konzerns Meta und anderen, die wie sie selbst Zielscheibe digitaler Gewalt sind. «Laut. Warum Hate Speech echte Gewalt ist und wie wir sie stoppen können» erscheint am Mittwoch (29. März).
So funktionieren Hasskommentare
In dem Buch beschreibt Chebli, wie Hasskommentare funktionieren, was sie so gefährlich macht, warum das Problem – trotz neuer Gesetze – noch immer besteht. Und wieso man den sozialen Medien ihrer Ansicht nach trotzdem nicht den Rücken kehren sollte – wie es etwa die SPD-Vorsitzende Saskia Esken vergangenes Jahr bei Twitter getan hat.
Für Menschen in Ländern, in denen es keine Meinungsfreiheit gibt, seien soziale Medien existenziell und könnten Leben retten, sagt Chebli der dpa. Und auch in westlichen Demokratien könnten sie eine enorme positive Kraft entfalten. Etwa dann, wenn sie genutzt würden, um Druck auf die Politik auszuüben.
Diese Sichtweise hat auch mit Cheblis Biografie zu tun. Als Tochter palästinensischer Geflüchteter, die auf Transferleistungen angewiesen waren, wuchs sie mit zwölf Geschwistern in Berlin auf. Bis zu ihrem 15. Lebensjahr war die Muslimin staatenlos. Ihre Familie habe sich dem deutschen Staat oft machtlos ausgeliefert gefühlt, sagt Chebli. Besonders, wenn der Vater in Abschiebehaft kam und das Land verlassen musste. «Von einer Plattform wie Twitter, wo man Probleme sofort publik machen kann, haben wir damals nicht mal zu träumen gewagt.»
Für Opfer jederezeit erreichbar
Heute will Chebli für Menschen, deren Stimme weniger hörbar ist und die ein konkretes Anliegen haben, über Twitter jederzeit erreichbar sein. Den Hass, der ihr entgegenschlägt – etwa weil sie eine Frau ist, eine Muslimin mit Migrationshintergrund, die erfolgreich ist und eine Stimme hat – nimmt Chebli in Kauf. Und auch die Angst davor, dass er vor ihrem realen Leben nicht Halt macht.
Dass diese nicht unbegründet ist, belegen zahlreiche Fälle, bei denen digitale Gewalt sich in die analoge Welt übertragen hat. Der Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke 2019 ist da nur die Spitze des Eisbergs. Auch Chebli wurde schon körperlich angegriffen. Heute begleiten sie zu bestimmten Terminen Personenschützer.
Mehr noch als Morddrohungen, so sagt sie, fürchte sie jedoch jene, die aus Angst verstummten – und die Plattformen Demokratiefeinden überließen. Studien belegen, dass dies geschieht. Experten warnen, dass Hate Speech die freie Meinungsäußerung im Netz einschränkt und gefühlte Mehrheiten verschiebt.
Viele verstummen aus Angst
Doch was tun? Cheblis Wunsch nach Plattform-Alternativen in Europa, bei denen statt Profit das Wohl der Gesellschaft im Mittelpunkt steht, scheint vielen Experten unrealistisch. Immerhin, Politik und Justiz haben die Probleme erkannt – und nehmen die Unternehmen langsam stärker in die Pflicht, rechtswidrige Inhalte zu löschen – und diese auch selbst zu identifizieren. Das zeigen Fälle wie die der Grünen-Politikerin Renate Künast, die diesbezüglich bereits zweimal gegen Facebook beziehungsweise den Konzern Meta vor Gericht gewann.
Hoffnung macht vielen zudem ein neues EU-Gesetz, dessen Regeln für besonders große Plattformen EU-weit ab September gelten. Es soll für mehr Schutz der Verbraucher und eine strengere Aufsicht von Online-Plattformen sorgen.
Appell an die Zivilgesellschaft
Chebli, die derzeit kein politisches Amt innehat, sich ehrenamtlich in Stiftungen und Organisationen engagiert, appelliert auch an die Zivilgesellschaft, in den sozialen Medien aktiv zu sein. Und diese zu einem freundlicheren Ort zu machen, an dem man gern zusammenkommt und debattiert. Dafür könnte man dort etwa mehr positive Geschichten liken, retweeten oder verbreiten, schlägt Chebli vor. Und denen, die von Hass betroffen sind, zur Seite stehen.
«Gezielte Hassattacken sollen Opfer in die Isolation treiben, ihnen das Gefühl geben, sie seien allein», sagt Chebli. Das könne durchbrochen werden. «Dabei muss man sich nicht gleich an allen Schlachten beteiligen.» Man könne etwa rechtswidrige Inhalte melden. Und sich mit den Betroffenen solidarisch zeigen, ihnen positive Nachrichten schreiben. Lovestorms gegen Shitstorms.
«Laut» ist nicht das erste Buch, das sich mit Hass im Netz auseinandersetzt. Das macht es nicht weniger wichtig. Man muss nicht mit allen Ideen darin übereinstimmen. Wenn es dazu führt, für das Thema zu sensibilisieren, ist schon einiges getan.