Sichtlich gerührt betritt John Neumeier vor der Premiere die Bühne der Staatsoper. «Ich freue mich, Sie zu sehen, wäre untertrieben», sagte der Ballettchef.
Es sei das erste Mal in seiner bald 50-jährigen Zeit als Hamburger Ballettdirektor, dass er nach einer Generalprobe sechs Monate auf die Premiere warten musste. «Das Ballett ist immer in Bewegung geblieben. Nur hat es niemanden bewegt», meinte der Ballettchef und seine Stimme stockte. Das Publikum – mit 400 Plätzen war die Staatsoper nur zu einem Viertel besetzt – zeigte sich am Ende begeistert und spendete lang anhaltenden Applaus im Stehen.
Zuvor mussten die Premieren-Besucher am Eingang ihre Eintrittskarte, einen negativen Coronatest oder einen Impfpass und ihren Personalausweis vorlegen. Was größtenteils reibungslos klappte. «Ein wunderbarer Moment. Endlich wieder ein Konzert live zu erleben», meinte eine Besucherin, und ihre Begleitung pflichtete ihr bei: «Ich freue mich wahnsinnig und bin ganz aufgeregt.» Während der Vorstellung müssen die Zuschauer ihre Masken auch am Platz tragen, in der Pause gibt es weder Speisen noch Getränke.
Ursprünglich wollte John Neumeier zum 250. Geburtstag von Ludwig van Beethoven (1770-1827) die Neunte Sinfonie choreografieren. Diesen Plan musste der Ballettchef wegen der Corona-Pandemie zurückstellen. Stattdessen verband er Klavier- und Kammermusikwerke mit der Siebten Sinfonie und einem Ausschnitt aus dem Oratorium «Christus am Ölberge», gesungen von Klaus Florian Vogt. Die musikalische Leitung des Philharmonischen Staatsorchesters übernahm Generalmusikdirektor Kent Nagano, seine Ehefrau Mari Kodama spielte Klavier.
In der Rolle von Beethoven brillierte wie schon in «Beethoven-Projekt» (2018) der spanische Tänzer Aleix Martinez, der mal mit Jacopo Bellussi, mal mit Hélène Bouchet mitreißende Pas de deux tanzte. Besonders eindrücklich interpretierte der 29-Jährige Beethovens Furcht vor dem voranschreitenden Hörverlust. Ganz im Gegensatz dazu verbreitete die Compagnie fröhliche Ausgelassenheit und Optimismus zur Siebten Sinfonie.
Bereits am Freitag hatte die Staatsoper mit Händels Oper «Agrippina» in der Regie von Barrie Kosky wieder eröffnet. Rund 300 Jahre ist es her, dass die Oper in Hamburg zuletzt gegeben wurde. Das Libretto von Vincenzo Grimani setzt sich qualitativ deutlich von der im 18. Jahrhundert üblichen Massenware ab. Mustergültig verblendet es Tragik und Witz zu einer fesselnden Handlung.
Kosky kostet diese Stärken voll aus. Ohne dem Stoff irgendeine Aktualität aufzuzwingen, zeichnet er die Figuren psychologisch so fein, wie es Händels Musik nahelegt. Barockoper geht heute nicht ohne deftige erotische Anspielungen. Bei «Agrippina» gehören sie allerdings zum Sujet dazu, denn Machtausübung und Sexualität sind hier untrennbar verbunden.
Dass die Spannung über knapp vier Stunden hinweg nicht nachlässt, ist auch der spielfreudigen Sängerbesetzung zu verdanken. Die junge Sopranistin Julia Lezhneva in der Rolle von Agrippinas Gegenspielerin Poppea ist der alles überstrahlende Mittelpunkt des Casts. In Riccardo Minasi und dem Ensemble Resonanz hat Kosky kongeniale Partner für seine so wahrhaftige, hochverdichtete Lesart gefunden. Die Musiker riskieren alles an Tempi, rhythmischen und klanglichen Finessen. Selten hört man Händel so lebendig und vielfältig.
Bereits am Montag geht der Öffnungsreigen der Hamburger Kultur weiter: Dann starten Elbphilharmonie und Laeiszhalle. Weitere Theater werden in den kommenden Tagen folgen.