Die Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim nach der Aufzeichnung der WDR-Talkshow "Kölner Treff" im April 2018. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Henning Kaiser/dpa)

Verdienstorden der Bundesrepublik, Journalistin des Jahres 2020 und Nominierung für den Grimme-Preis: Die promovierte Chemikerin Mai Thi Nguyen-Kim beeindruckt ein Millionen-Publikum mit ihren klaren wissenschaftliche Analysen populärer Themen – anschaulich, gut verständlich und frisch präsentiert.

Neben ihrem erfolgreichen You-Tube-Kanal maiLab mit rund 1,3 Millionen Abonnenten ist die 33-Jährige jetzt auch in mehreren ZDF-Formaten eingeplant. Nur wenige Wochen nach Erscheinen ihres Sachbuchs «Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit» avancierte sie auch noch zur Bestsellerautorin.

Auf – mit Anhang – rund 370 Seiten befasst sie sich mit den «größten Streitfragen wissenschaftlich geprüft». So überzeugend, dass das Buch nicht nur schnell einen festen Platz in der Spitzengruppe der Sachbuch-Rankings erobert hat, sondern sogar als eines von acht für den ersten Deutschen Sachbuchpreis nominiert ist.

«Ich versuche in allem, was ich tue, Sachen zu machen, die ich auch selber gerne konsumieren würde», sagt Nguyen-Kim im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. «Das ist ein Buch, das ich auch selber gerne lesen würde.»

Intelligenz, Videospiele und Gewalt, Pharmaindustrie und alternative Medizin – die Wissenschaftlerin hat für ihre Analysen («wahr, falsch, plausibel?») Themen ausgesucht, die viele Menschen beschäftigen. Dazu gehört auch die Frage, ob Tierversuche vertretbar sind. Und es geht um die Unterschiede zwischen Männer und Frauen. In einem Kapitel befasst sie sich mit dem Gender Pay Gap, in einem anderen mit der ewigen Frage: «Warum denken Frauen und Männer unterschiedlich?» Ganz unabhängig von Corona geht Nguyen-Kim auch der Frage nach: Wie sicher sind Impfungen?

Zu einigen der ausgewählten Themen hat die Youtuberin zuvor schon Videos veröffentlicht. «Ein Kapitel steht in überhaupt keinem Verhältnis zu einem Video – allein im Recherche-Aufwand», stellt Nguyen-Kim über die beiden unterschiedlichen Medien fest. Bei ihren Videos arbeite sie zudem im Team – mit zwei anderen promovierten Wissenschaftlerin. «Ich wollte das Buch wirklich allein schreiben, muss im Zweifelsfall selbst dafür stehen», berichtet sie. «Die Angst, Vertrauen zu verspielen, war noch viel größer.» Und: «Ich habe durch das tiefere Reinknien auch immer noch mal meine Meinung geändert.»

Die Drogenpolitik (Kapitel 1) nennt sie als Beispiel. «Ich hatte ein ganz anderes Drogenkapitel im Kopf und dachte, warum hören wir nicht auf die Wissenschaft», sagte sie mit Blick auf das häufig zitierte Drogen-Ranking, das von Alkohol angeführt wird. Bei der Beschäftigung mit der Methodenkritik habe sie gemerkt: «Es ist gar nicht so einfach, wie man sich das als Wissenschaftler wünschen würde».

Ihr Fazit: «Es ist nicht sinnvoll, Drogen auf einer Scala zu verteilen.» Sondern? «Viel sinnvoller ist es, für jede Droge ein policy-ranking zu machen – von total Legalisieren bis komplett Verbieten mit allen Zwischenstufen», sagt die Wissenschaftsjournalistin. «Welche Politik wäre bei jeder Droge am wenigsten schädlich für die Gesellschaft. Das wäre aber auch auf jeden Fall schwieriger als ein Drogen-Ranking.»

«Vielleicht macht sie ja später mal so etwas wie Ranga Yogeshwar.» Mit diesem Satz hat ihr Mann – ebenfalls ein promovierter Chemiker – Weitsicht bewiesen. Eigentlich habe er damit 2017 ihren Vater trösten wollen, schreibt Nguyen-Kim im Vorwort des Buches. Der Grund: Sie habe ein «attraktives Jobangebot als Laborleiterin bei BASF abgelehnt», um es mit der Wissenschaftskommunikation zu versuchen. «Ranga Yogeshwar? Ja, das wäre natürlich toll», antwortete der Vater, behielt aber nicht Recht mit der Einschätzung: «Aber ihr wisst doch selbst, wie unwahrscheinlich das ist».

«Ich bin aus der Wissenschaft rausgegangen ein bisschen getriggert durch solche Begriffe wie alternative facts», erzählt Nguyen-Kim im Gespräch über diese Zeit 2017. «Ich hatte das Gefühl, dass wir zunehmend die Fähigkeit verlieren, uns auf Tatsachen zu einigen.» Die Debatte an sich sei für sie als Wissenschaftlerin «my love language». Aber: «Man kommt besser voran, wenn man auf einem gemeinsamen Boden der Tatsachen steht.»

Dies habe sie anhand unterschiedlicher konkreter Streitthemen zeigen wollen – lange vor Corona, der Buchtitel sei schon 2019 klar gewesen. «Wissenschaftlichkeit heißt nicht weniger zu streiten, sondern besser», bringt sie es im letzten der neun Kapitel auf den Punkt. «Es hatte auch etwas therapeutisches, sich mal nicht mit Corona zu beschäftigen und sich in Papierberge zu knien», sagt Nguyen-Kim über das Schreiben. «Ich will die Hoffnung nicht aufgeben, dass wir vielleicht doch wieder einen Kurs zu einer Versachlichung hin bekommen.»

Mai Thi Nguyen-Kim: Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit – Wahr, falsch, plausibel? Die größten Streitfragen wissenschaftlich geprüft, Droemer Verlag, München, 368 Seiten, 20,00 Euro, ISBN 978-3-426-27822-2

Copyright 2021, dpa (www.dpa.de). Alle Rechte vorbehalten, Von Ira Schaible, dpa

Von